OLAFUR ELIASSON: SYMBIOTIC SEEING

Reality is relative

Olafur Eliasson Symbiotic seeing 17.01. – 22.03.2020

Der dänisch-isländische Künstler Olafur Eliasson (*1967) ist einer der wichtigsten zeitgenössischen Künstler. Er schafft immersive Installationen, die unsere Sinne ansprechen und in denen sich die Grenzen zwischen Betrachter und Werk auflösen. Seine räumlichen Werke laden uns dazu ein, über uns, unsere Wahrnehmung und wichtige Themen unserer Zeit nachzudenken. Im Mittelpunkt der neuen Werke, die der Künstler speziell für das Kunsthaus realisiert hat, steht die Frage des Zusammenlebens zwischen Menschen, Tieren, Pflanzen und anderen Lebewesen auf dieser Erde.

«Meine Sinne sind wie experimentelle Fremdenführer. Sie generieren meine ureigenste Wahrnehmung von Zeit. Zugleich verleihen sie meiner Umgebung Tiefe. Sie sind beständig und kritisch mit der Welt von heute im Austausch – sie empfangen, evaluieren und produzieren meine Realität.»

Olafur Eliasson

Reality is relative

Algae window (2020) ist ein kreisrundes «Fenster», das aus einem Arrangement von Glaskugeln besteht.

 

Wer näher herantritt und durch die Kugeln schaut, entdeckt kleine, fragmentarische Ausschnitte der Aussenwelt, die aufgrund der optischen Eigenschaften der Linsen auf dem Kopf dargestellt werden. Die Anordnung der Glaskugeln auf der Wand ist von den mikroskopischen Darstellungen der Kieselalge abgeleitet, die grosse Mengen Kohlendioxid aus der Atmosphäre binden kann.

Die Muster erinnern an die Lithographien der Kieselalge, die der deutsche Mediziner und Zoologe Ernst Haeckel 1904 in seinem Buch Kunstformen der Natur publizierte. «Der Hauptzweck meiner <Kunstformen der Natur> war ein ästhetischer: ich wollte weiteren Kreisen Zugang zu den wunderbaren Schätzen der Schönheit öffnen, die in den Tiefen des Meeres verborgen oder wegen ihrer geringen Grösse nur durch das Mikroskop erkennbar sind.»

«Ich mache die Konstruktion für die Besucher sichtbar, um ihr Bewusstsein dafür zu schärfen, dass jedes Kunstwerk zunächst eine Option ist – ein Modell.»

Olafur Eliasson

Viele von Olafur Eliassons Arbeiten haben etwas Magisches und wecken die kindliche Neugier in uns. Doch Eliasson ist es auch wichtig aufzuzeigen, wie der Effekt zustande kommt und welche Konstruktion hinter der Illusion steckt. Diese Kombination aus Magie und Technik ist für Eliasson charakteristisch.


Seine Arbeiten erinnern oft an naturwissenschaftliche Experimente. Im Unterschied zu wissenschaftlichen Anordnungen im Labor, die darauf angelegt sind, spekulative Annahmen zu überprüfen, geht es bei ihm darum, eine gewisse Verunsicherung hervorzurufen und Fragen aufzuwerfen, die Raum für neue Ideen, Inhalte und Gedankenexperimente schaffen.

 

Olafur Eliasson inszeniert in Algae window eine optische Täuschung, die die Welt ganz wörtlich auf den Kopf stellt. Es geht ihm dabei aber nicht um eine optische Spielerei, sondern darum, überlieferte Gewissheiten und festgefügte Denksysteme in Frage zu stellen. Indem er die mikroskopische Darstellung der einzelligen Kieselalge so stark vergrössert, dass der Mensch im Vergleich dazu plötzlich klein wird, bereitet er das Terrain vor für neue Formen der Erkenntnis und ein alternatives Weltbild.

Space as process

Space as Process

Olafur Eliasson inszeniert in der Installation Escaped light landscape (2020) ein faszinierendes Spiel aus farbigen Lichtern, die den Raum scheinbar in Bewegung versetzen.

Farbige Lichtkegel bewegen sich auf der Wand und verändern sich laufend. Aus Kreisen werden langgestreckte Formen, Farben tauchen auf, verschwinden wieder und neue kommen dazu - von einem fahlen Blau bis hin zu einem starken, sonnigen Gelb. Ausgangspunkt dieses Lichtspiels ist ein schwarzer Kasten, in den ein Scheinwerfer leuchtet. Durch die Öffnungen im Kasten können die Besucher sehen, wie die Lichtprojektion auf der Wand zustande kommt.

Escaped light landscape ist eine Anordnung von Licht, Farbeffekt-Filterglas, konkaver Glasspiegel und Linsen – u.a. solchen, die normalerweise in Leuchttürmen Verwendung finden. Durch Drehen der Linsen und Filter verwandeln sich die Farben und Formen und der ganze Raum scheint sich in Bewegung zu versetzen. Dazu kommen die Besucher, die durch ihre Präsenz im Raum Schatten generieren und so nicht nur Teil des Werkes werden, sondern dieses eigentlich erst konstituieren.

«Das zentrale Thema ist die Rolle des engagierten Zuschauers oder Benutzers. Die Frage ist, ob die Aktivitäten oder Handlungen dieses Benutzers tatsächlich erst das Kunstwerk erschaffen. Man kann sagen, dass es ohne die Teilnahme des Benutzers nichts gibt.»

Olafur Eliasson

In Eliassons Werk spielen die Betrachter oder Benutzer eine aktive Rolle. Sie interagieren unterschiedlich mit den Arbeiten und werden auf diese Weise zu Co-Autoren der Werke.

Es geht sehr oft darum, sich der eigenen Position im Raum, im Verhältnis zum Werk und den anderen Besuchern sowie der Welt in einem weiteren Sinn bewusst zu werden. Eliassons Werke funktionieren so als Modelle für die Gesellschaft sowie die Beziehung von Individuum und Gruppe.

 

Die Arbeit Escaped light landscape verändert sich ständig – einerseits durch die Linsen, die über Motoren in der Box bewegt werden, andererseits durch die Besucher. Je nachdem wie viele Menschen sich im Raum befinden und Schatten auf die Wände werfen, ist das Bild ein anderes. Werk, Mensch und Raum bedingen sich gegenseitig.

I look at the world as a model

I look at the world as a model

Einfache optische Instrumente beschäftigen Olafur Eliasson seit mehr als zwanzig Jahren. Dazu gehören auch Kaleidoskope.

Bei Eliasson sind Kaleidoskope einfache Konstruktionen, die aus Spiegeln bestehen. Sie erzeugen die Illusion eines dreidimensionalen Raumes und beziehen die Betrachter und die Umgebung in die Spiegelung mit ein. So werden sie zu «Sehmaschinen», die den Betrachter auffordern, sich aktiv mit dem Prozess der Wahrnehmung zu beschäftigen.

Kaleidosphere (2020) vereint dreissig unterschiedliche Kaleidoskope zu einer kugelförmigen Skulptur. Sie erinnert in ihrer Form an historische Globen.

«Wir sehen das, was unserem Gehirn einsichtig erscheint. Aber als Künstler oder kritischer Denker hinterfragst du alles, was du siehst. Du verstehst, dass die Realität deine Verhandlungsmasse ist. Die Vorstellung einer veränderbaren Realität ist eine solide Basis für Fortschritt und Veränderung.»

Olafur Eliasson

Ein Globus ist ein kugelförmiges Modell der Erde. Die Entstehung solcher Globen ist eng verbunden  mit den Entdeckungsreisen im 15. Jahrhundert, der kartografischen Vermessung der Welt und der damit einhergehenden Aneignung der Erde durch den Menschen.

Inzwischen ist die Kolonialisierung der Erde durch den Menschen weit fortgeschritten. Das dieser Eroberung zugrunde liegende und bis heute in grossen Teilen noch gültige Weltbild ist geprägt von der Vorstellung einer übergeordneten Stellung des Menschen gegenüber der Natur und anderen Spezies auf der Erde.

Anstelle einer globalen Übersicht vermitteln 30 verschiedene Polyeder eine fragmentierte Sicht auf die Realität, bei der sich die Besucher immer auch im Verhältnis zum gespiegelten Raum und den anderen Menschen darin sehen. Der hegemoniale Blick des Menschen auf die Weltkugel ist unmöglich geworden. Stattdessen wird deutlich, dass wir Teil eines komplexen Systems sind, in dem ganz unterschiedliche Akteure zusammenspielen.

Symbiotic seeing

Symbiotic seeing

Symbiotic seeing (2020) ist eine fast 400 m2 grosse Installation, die im Zentrum der Ausstellung steht und ihr den Titel gibt.

Wer den dunklen Raum betritt, entdeckt ein faszinierendes Spiel aus Farbe, Bewegung und Licht. Die Wirbel und Farbspiele erinnern an Lichtspiegelungen auf einer Wasseroberfläche. In seiner Grösse erinnert das Werk denn auch an ein Meer. Doch das, was aussieht wie Wasser, befindet sich hier über den Köpfen der Besucher an der Decke. Im Raum ist eine Komposition von Hildur Gudnadottir zu hören, die von einem Roboter-Arm live auf einem Cello gespielt wird.

 

  • Fig. 32, Lynn Margulis, Credit: BU (Boston University), Photography in Allen, Roland & Lidstrom, Suzy (2017). Life, the Universe, and everything—42 fundamental questions. Physica Scripta. 92.(01)
  • Ernst Haeckel, Beiträge zur Plastidentheorie., 1870, In: Jenaische Zeitschrift für Medizin und Naturwissenschaft. Band 5, 1870, Plate XVII, Fig 1, Bathybius Haeckelii, 1870
  • Research pin-wall, detail. Studio Olafur Eliasson, 2019, Photo: Mirjam Varadinis
  • Shoshanah Dubiner, Endosymbiosis: Homage to Lynn Margulis, 2012, Gouache auf Stonehenge-Papier, © Shoshanah Dubiner
  • Test, 2019, for Symbiotic seeing, 2020, Photo: Maria del Pilar Garcia Ayensa / Studio Olafur Eliasson
  • Test, 2019, for Symbiotic seeing, 2020, Photo: María del Pilar García Ayensa / Studio Olafur Eliasson

Versteckte Laser projizieren farbige Lichtstreifen auf eine regelmässig eingesprühte, schwebende Nebelschicht. Je nachdem wie viele Personen sich in der Installation befinden, verändert sich die Arbeit. Durch ihre Körperwärme und die Bewegung im Raum beeinflussen die Besucher den Luftstrom und damit das visuelle Spiel an der Decke.

«Denken wir nur daran, wie sehr uns das sogenannte Mikrobiom beeinflusst – Bakterien, Pilze, Archaeen und Viren machen Schätzungen zufolge über die Hälfte unserer Körpermasse aus. Das bedeutet, wir sind in ebenso hohem Masse nicht-menschlicher wie menschlicher Natur.»

Olafur Eliasson

Eine wichtige Inspiration für Symbiotic seeing waren die Forschungen der amerikanischen Biologin Lynn Margulis (1938-2011) und des Chemikers James Lovelock. In den 1960er-Jahren formulierten die beiden die Gaia-Hypothese. Gaia kommt aus dem Griechischen und war der Name der Gottheit, die die Erde personifizierte. Margulis und Lovelock stellten die Hypothese auf, dass der Planet Erde und die Biosphäre als Organismus begriffen werden können, da die Biosphäre (die Gesamtheit aller Organismen) Bedingungen schafft und erhält, die nicht nur Leben, sondern auch eine Evolution komplexerer Organismen ermöglichen.

Dass Symbiose bei der Entwicklung von Leben genauso wichtig war wie der von Darwin formulierte Konkurrenzkampf, führt Margulis in ihrem Buch Der symbiotische Planet (1998) aus. Darin beschreibt sie, wie Symbiosen im ganz Kleinen wie im ganz Grossen stattfinden. «Wir Menschen sind das Ergebnis der Milliarden Jahre währenden Wechselwirkungen zwischen höchst reaktionsfähigen Mikroben», sagt Lynn Margulis. So wie der Übergang vom Einzeller zum Mehrzeller auf Kooperation basierte, war auch die Besiedelung des Landes durch Pilze und Pflanzen nur gemeinsam möglich. Alle Lebensformen im Verbund stabilisieren nach Margulis die Temperatur und Atmosphäre der Erde – ein interessanter Gedanke im Zeitalter des Anthropozäns, in dem das Verhältnis Mensch-Erde längst aus dem Gleichgewicht geraten ist. (Mehr zu diesem Thema finden Sie im Ausstellungskatalog.)

 

Mit der Arbeit Symbiotic seeing wie auch der Ausstellung insgesamt zielt Olafur Eliasson auf einen Perspektivenwechsel. Er lädt dazu ein, nicht nur über den Klimawandel als Folge menschlichen Handelns nachzudenken, sondern die Position des Menschen als Teil eines grösseren Systems zu verstehen. Das Verhältnis und die Hierarchie von Mensch und anderen Lebewesen auf der Erde soll kritisch hinterfragt und Raum geschaffen werden für andere Formen des Zusammenlebens, die auf Koexistenz und Kooperation setzen statt auf Konkurrenzkampf.

I want to have an impact

I want to have an impact

Olafur Eliasson ist ein sozial und ökologisch engagierter Künstler, der im Dialog mit Politikern und NGOs steht. Er ist der Überzeugung, dass Kunst eine Sprache ist, die das Potenzial hat, Menschen zu mobilisieren und die Welt zu verändern.

Themen wie Klimawandel, Migration oder die Ausbeutung der Ressourcen unseres Planeten spielen eine zentrale Rolle in Eliassons Werk. Es gelingt ihm, diese wesentlichen Fragen und sozialen Belange in eine Formensprache umzusetzen, die die Menschen nicht nur rational anspricht, sondern sie auch emotional berührt und körperlich bewegt. Im September 2019 wurde Olafur Eliasson von der UN als Botschafter für den Klimaschutz ernannt.

Ice Watch, 2014. Bankside, outside Tate Modern, London, 2018, Photo: Charlie Forgham-Bailey

Für die Arbeit Ice Watch platzierte Eliasson grosse Eisblöcke aus Grönland auf öffentlichen Plätzen in Kopenhagen (2014), Paris (2015) und London (2018), wo sie unter den Berührungen der Menschen langsam schmolzen. Diese eindrucksvolle Geste macht die Folgen der Klimakatastrophe physisch spürbar und im wahrsten Sinn des Wortes «greifbar».

Little girl playing with Little Sun Original in Ethiopia, © Merklit Mersha

Ein weiteres Projekt, das das soziale Engagement von Olafur Eliasson und seinen Einsatz für erneuerbare Energien deutlich macht, ist die Initiative Little Sun, die er 2012 gemeinsam mit dem Ingenieur Frederik Ottesen gestartet hat. Das Ziel dieses Projektes ist es, mit kleinen, solarbetriebenen Lampen in Gestalt einer Blume, Licht in Gegenden der Erde zu bringen, die bisher ohne oder nur mit unregelmässigem Zugang zu Elektrizität auskommen müssen. Fast 1 Million Lampen konnten seit dem Start der Social Business-Initiative Little Sun vertrieben werden.

Lunch at the studio, Photo: María del Pilar García Ayensa / Studio Olafur Eliasson

Nicht nur in seinen Werken engagiert sich Eliasson für die Umwelt. Auch seine tägliche künstlerische Praxis ist von Kooperation und einem Bewusstsein für nachhaltige soziale Praktiken geprägt. So arbeitet er seit Mitte der 1990er-Jahre in seinem Studio in Berlin mit einem grossen interdisziplinären Team aus verschiedensten Spezialisten. Dazu gehören Handwerker und Architektinnen, aber auch Medienspezialisten, Köche und viele mehr. Jeden Mittag isst das Team gemeinsam an langen Tischen in der Studioküche, wo frisch gekochte, vegetarisch-nachhaltige Menüs serviert werden. Das Studio ist also ein kleines System der Koexistenz.

 

UNDP for SOE, 2019, Studio Olafur Eliasson, https://vimeo.com/361815164

Geheimtipp

Geheimtipp

23. Januar & 6. Februar
«Black Out»: offen bis 23 Uhr


2012 gründete Eliasson das Social Business Little Sun, eine Initiative, die mit solarbetriebenen kleinen Lampen in Gestalt einer Blume Licht in Gegenden der Erde bringen, die bisher ohne oder mit unregelmäßigem Zugang zu Elektrizität auskommen müssen. Was das bedeutet, machen die zwei Veranstaltungen Black Out im Rahmen der Ausstellung deutlich. Die Besucherinnen können einen Teil der Sammlung des Kunsthauses im Dunkeln und nur mit «Little Sun»-Lampen ausgerüstet besuchen. Ein Teil des Erlöses dieser Aktion geht an das Little Sun-Projekt.